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Gemeinsam Erinnern - gemeinsam Handeln

Anne1Seit 1996 ist der 27. Januar der deutsche Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Anlass ist der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 durch die Sowjetarmee. Im Jahr 2005 wurde der 27. Januar von den Vereinten Nationen sogar zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ erklärt. Er ist ein Gedenktag für ALLE Opfer des Nationalsozialismus. Es ist aber immer noch für viele eine Frage: Wurden und werden lesbische Frauen verfolgt, waren auch sie Opfer des NS-Terrorregimes? Anne Simon ging in ihrer Rede zur Gedenkveranstaltung 2015 am Mahnmal „totgeschlagen – totgeschwiegen, den schwulen und lesbischen Opfern des Nationalsozialismus“ im Kölner Rheingarten auf diese Frage ein. Hier ist ihre Rede nochmal zum Nachlesen: 

Die Situation lesbischer Frauen wird regelhaft an der Situation schwuler Männer gemessen und in diesem Vergleich als nachrangig bewertet, wie wir an den Auseinandersetzungen um das Berliner Mahnmal und die Gedenktafel im KZ Ravensbrück nachverfolgen können! Dass von einer NS-Verfolgung lesbischer Frauen gesprochen werden kann, darüber besteht keineswegs Einigkeit. Schlagzeile bei queer.de am 04.01.2013: „Keine Gedenktafel für lesbische Frauen in Ravensbrück – Verfolgung nicht bewiesen“. Und die nachfolgenden User-Kommentare lassen jegliche anspruchsvolle Diskussion einer gemeinsamen lesbisch-schwuler Politik vermissen. Teil einer solchen angemessenen Diskussion wäre es, die Verfolgungsgründe sozial und sexuell unangepasster Frauen im „Dritten Reich“ ebenso wie die Homophobie in der Erinnerungsgeschichte Ravensbrücks zu erforschen und wahrzunehmen. 

Umso wichtiger: ein Gedenktag und der gemeinsame Gedenkort hier in Köln für Schwule und Lesben.

Auch die Lesben sind in der Aufschrift des Mahnmals ausdrücklich erwähnt. Nur weil eine Gruppe weniger strafrechtlich verfolgt wurde, bedeutet das nicht, dass ihr kein Unrecht widerfahren ist. Achim Zinkann (*1960), der das Mahnmal geschaffen hat, beschreibt es so: „Zwei Blöcke, zwei Farben, zwei Schnitte, zu einem Ganzen zusammengefügt. Ein grauer, ein rosa Block. Teile einer Gesellschaft. Männer, Frauen. Lesben, Schwule, einander bedrückend, sich aneinander reibend, ineinander aufgehoben, sich bedingend. Weitere Interpretationen überlasse ich dem Betrachter.“ – und ich ergänze „der Betrachterin“.

Einander bedrückend, sich aneinander reibend, ineinander aufgehoben, sich bedingend...

Unterdrückung funktioniert nicht nur durch offene Verbotsakte wie z.B. Strafparagraphen. Die Schaffung eines Gebiets der Undenkbarkeit und Unaussprechlichkeit ist auch Unterdrückung. Lesbische Lebens- und Liebesformen stoßen zum Teil nicht einmal in das Denk- und Vorstellbare. Das wahrzunehmen, heißt nicht, die Verfolgung schwuler Männer zu relativieren. Wir sollten uns aber immer daran erinnern, welche Folgen Verhältnisse haben, die zu Verhinderung, Stigmatisierung, Marginalisierung und Auslöschung führen. Sichtbarkeit und die Möglichkeit für sich selbst sprechen zu können, ist also abhängig von Machtkonstellationen, für die wir alle Verantwortung tragen – jetzt. 

Die Geschichte von Lesben und Schwulen ist die jeweils andere Seite der Medaille einer gemeinsamen (Verfolgungs-)Geschichte. Die nationalsozialistische Rassepolitik nahm den gesellschaftlich weithin akzeptierten Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus und die ebenfalls in weiten Teilen gesellschaftlich akzeptierte Eugenik des 19. Jahrhunderts auf und verfolgte ein partikular-rassistisches Ethos. In diesem NS-Kosmos sind die Rollen klar verteilt. Letztlich ging es um „Zeugung von Leben nach eugenischen Maßgaben“ und Bereicherung zu Lasten derjenigen, die man „ausmerzte“ und „eliminierte“.

Alles, was nicht passte, sollte weg!

Fürsorge nur für die, die die eigenen Maßstäbe erfüllten und die eigene Weltanschauung teilten. Es gab eine geschlechtsspezifische Homosexuellenpolitik. Deutsche, gesunde, „arische“ Männer, die keine Kinder zeugen, und deutsche, gesunde, „arische“ Frauen, die eigenes Begehren leben wollten, unabhängig von Männern, passten nicht in die Männlichkeits- und Weiblichkeitskonzepte der Ideologen. Frauen wurden dabei durch die männerbündische NS-Ideologie so degradiert, dass man sich ihnen nur dann widmete, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. Der streng geschlechterhierarchische NS-Staat verdrängte nach der Machtübernahme auch so genannte arische und politisch unbelastete Frauen aus allen Positionen mit politischer Verantwortung und aus Berufen mit hohem Sozialprestige. Homosexuelle Männer galten als „bevölkerungspolitische Blindgänger“; dagegen war jede Frau „bevölkerungspolitisch nutzbar“, was einem Aufruf zur Vergewaltigung gleichkam. Lesben, Frauen, die sich sozial und sexuell nicht über Männer definierten, wurden totgeschwiegen, quasi als nicht-existent betrachtet. (Was ich für nicht-existent erkläre, brauche ich nicht mehr totzuschlagen.) 

Dass dieser Mechanismus bis weit in die 1960er- und 1970er-Jahre wirksam war, beschreibt Lucia W. in einem biografischen Portrait, das 2002 in der Publikation „Lebenswege lesbischer Frauen“ veröffentlicht wurde. Lucia W. (Jg. 1929) schreibt: „Von Lesben wurde früher auch schon geredet – natürlich nicht mit diesen Worten. Und dass es diesen Homosexuellen-Paragraphen gab, sie auch sehr gefährdet lebten, das kriegte man natürlich mit. Die Bevölkerung hatte keine Sympathie für diese Leute. Und Lesben wurden zumeist als hässliche | Mannweiber gesehen, als Frauen, die keinen Mann abgekriegt haben. So war das, und sonst wurde darüber nicht geredet.“ (Lebenswege, 47.48) „Wir wollten keine Lesben sein. Der Ausdruck Lesbe hatte Diskriminierendes. Das war etwas Unaussprechliches und Widernatürliches.“ (Lebenswege, 49) „Versteckt habe ich mich immer. Wir haben uns niemals geoutet, das hätten wir uns einfach nicht getraut. Auch in den sechziger Jahren noch nicht, als alles noch stark von Vorurteilen belegt war. Auch in uns selber war das so stark drin, dass wir es nicht so einfach ablegen konnten. Das ist ein langer Prozess gewesen.“ (Lebenswege, 53)

Mit dem Ende des NS-Staates war es also nicht vorbei, was in den 1930er-Jahren in Politik und Gesetzgebung umgesetzt wurde.

Homosexuelle Männer wurden unter dem §175 strafverfolgt, der seit dem 1. September 1935 noch verschärft wurde – noch ein Erinnerungsdatum in diesem Jahr. Die verschärfte Fassung des §175 sanktionierte nicht nur sexuelle Handlungen, sondern machte bereits eindeutige Blicke und Anbahnungsversuche strafbar. Mit einem eigenen Strafrechtsparagraphen wurden lesbische Frauen unter dem deutschen NS-Terrorregime nicht verfolgt – ja. Aber das österreichische Strafgesetzbuch von 1852 normierte in §129 lit b bis 1972 die Verfolgung homosexueller Männer und – zum Unterschied zur reichs- und bundesdeutschen Gesetzgebung – auch Frauen. Und dieser Paragraph galt im österreichischen Territorium auch nach dem Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich ab dem 13. März 1938 in Absprache mit Adolf Hitler.

Alle Frauen, die der NS-Ideologie nicht entsprachen, sei es in puncto Leistung, Pflichterfüllung, politische Unterordnung, Gesundheit oder Rasse, galten als erbkrank und asozial. Davon betroffen waren: Geisteskranke, Gehörlose, Blinde, Jüdinnen, Roma, Ostarbeiterinnen, Prostituierte, Kommunistinnen, Sozialistinnen usw. Sie waren von der Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung oder Tötung bedroht. Hier möchte ich an Jenny Schermann erinnern. Die Diagnose „triebhafte Lesbierin“, die der Euthanasie-Arzt Friedrich Mennecke für Jenny Schermann ausstellte, bedeutet deren Tod. In der Urteilsbegründung heißt es: „Jenny ‚Sarah’ Schermann, 19.2.1912, ledige Verkäuferin in Frankfurt/Main. Triebhafte Lesbierin, verkehrte nur in falschen Lokalen, vermied den Namen Sara. Staatenlose Jüdin“.

So einlinig ist es also nicht – homosexuelle Männer sind Verfolgte, lesbische Frauen nicht.

Die Arbeit an der Freiheit lässt sich nur gemeinsam bewältigen. Nur indem wir das jeweilige Ausmaß der Unterdrückung und Verfolgung und die jeweils verschiedenen Zusammenhänge anerkennen, kommen wir weiter. Es geht um ein Umparken im Kopf, jeweils für sich – und miteinander! Weg vom Totschweigen – hin zum mutigen Wahrnehmen von Machtverhältnissen und hochkomplexen (Geschlechter-)Welten, hin zum gegenseitigen Respekt.

Für mich sind diese Gedenkminuten auch eine Demonstration gegen geschlossene Denkgebäude und Angst – angesichts von Pegida und „Besorgten Eltern“. Solche Proteste gegen Gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit brauchen oft lange, bis sie wirken. Aber sie gehen in den Gesamthaushalt unserer Gesellschaft ein. – Ich staune immer wieder, wie kurz die Geschichte der Menschenrechte eigentlich ist! (Jan Eckel) – Solches Gedenken, solche Proteste machen unsere Hirne wacher und unsere Herzen wärmer! (Vgl. Rosa Luxemburg, Proteste)

Lasst uns mit wachen Hirnen und warmen Herzen weiter an der Freiheit arbeiten!


2012 Vilnitz Anne SimonSeit 2006 ist Anne Simon freiberuflich als Beraterin und Supervisiorin in eigener Praxis in Wuppertal tätig. Darüber hinaus arbeitet sie freiberuflich als Redakteurin des Evangelischen Bildungsservers der EKD (EBS). Sie engagiert sich im Vorstand von Wupperpride e.V., der seit 2010 in Wuppertal den CSD und die jährliche SchwulLesbische Kuturwoche organisiert und verantwortet. Im Rahmen der Kulturwoche findet mit Unterstützung des Kirchenkreises Wuppertal auch ein CSD-Gottesdienst in der CityKirche Elberfeld statt.

Nach dem Abitur studierte sie Evangelische Theologie in Wuppertal, Tübingen und Hamburg. Nach dem Ersten und Zweiten Theologischen Examen bei der Evangelischen Kirche im Rheinland war sie 1995/96 ein Jahr lang Assistant Pastor bei United Church of Christ (UCC) in den USA (Harrisburg, PA). Nach dem so genannten Hilfsdienst (z.A.-Zeit) in der Ev. Kirchengemeinde Essen-Kray Sozialmanagement-Studium (MA Essen), von 1999-2001 Lektorin im damaligen Presseverband der EKiR, 2001-2006 Polizeiseelsorgerin in der Kreispolizeibehörde Wuppertal. 2008-2012 Ausbildung zur Gestalttherapeutin.

Den Redebeitrag incl. Quellennachweise und Fußnoten gibt es auch als PDF.
Auf YouTube wurde von CCH Photography ein Mitschnitt der Veranstaltung veröffentlicht.

 

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