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Im Interview mit Barbara Steffens: Eine Einordnung von schwuler Gesundheit 2016

Steffens_Portrait_OF_sRGB_2Barbara Steffens ist als Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter in der Landesregierung auch für die Themen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans* und Inter* zuständig. Hier ergeben sich regelmäßig Schnittmengen mit ihrer Aufgabe als Gesundheitsministerin des Landes NRW. Im Interview sprechen wir zum 25-Jährigen des Schwulen Netzwerks NRW deshalb mit Frau Steffens über schwule Gesundheit. Liebe Frau Steffens, HIV und AIDS waren in den 1980er und 1990er Jahren die bestimmenden Themen, wenn man von schwuler Gesundheit sprach. Das Schwule Netzwerk NRW wurde 1991 unter anderem auf Betreiben der Aidshilfe NRW gegründet, um neben der Verhaltensprävention auch zielgruppennahe Verhältnisprävention leisten zu können. Welche Rolle wird den Aidshilfen mit ihrer Lebensstilpolitik ihrer Meinung nach in einer Zeit nach HIV zukommen?  Dass es eine Zeit nach HIV geben wird, halte ich für unwahrscheinlich. Denn trotz intensiver Aufklärung und neuer Medikamente werden sich Menschen mit dem HI-Virus infizieren. Sie benötigen psychosoziale Beratung und Unterstützung in vielen Lebensbereichen, die die Aidshilfen zielgruppengerecht, qualifiziert und authentisch leisten können. Durch neue hochwirksame Medikamente ist die HIV-Infektion heute bei frühzeitiger Diagnose gut behandelbar und eine chronisch verlaufende Krankheit. Aber die unbehandelte oder nicht rechtzeitig behandelte Infektion kann weiterhin zum Tode führen. Deshalb bleibt es wichtig, dass wir auch in Zukunft zielgruppen- und lebenslagenorientiert über Risiken und Schutzmöglichkeiten aufklären. Hierzu leisten gerade die Aidshilfen einen wertvollen und unverzichtbaren Beitrag. Zugleich erfahren Menschen mit HIV und AIDS auch heute noch Diskriminierung und Ausgrenzung im privaten wie im beruflichen Bereich. Die Aidshilfe sehe ich hier als kompetenten Kooperationspartner und Lobbyisten für Benachteiligte und Minderheiten. Da HIV immer auch mit tabuisierten Themen wie Sexualität, schwulem Leben, Prostitution oder Drogengebrauch in Verbindung gebracht wird, müssen wir alle dieser immer noch bestehenden Stigmatisierung durch Informationen entschlossen entgegentreten. Aidshilfen gelingt durch ihre lebensstilakzeptierende Arbeit der Zugang zu teilweise schwer erreichbaren Zielgruppen, und sie sind deshalb ein wichtiger Partner. Inwiefern bestimmt bereits heute das Themenfeld „schwule Gesundheit“ die Agenda im Gesundheitsministerium jenseits von HIV und AIDS? Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Gesundheit als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur als Fehlen von Krankheit oder Gebrechen. In diesem Sinn leisten wir mit dem „NRW- Aktionsplan für Gleichstellung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt – gegen Homo- und Transphobie“ einen großen Beitrag zur schwulen Gesundheit. Mit dem Aktionsplan setzen wir uns dafür ein, dass alle Menschen ihre sexuelle Identität selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben können. Außerdem wirken wir auf eine Erweiterung der Kompetenzen von Fachkräften in Bezug auf die gesundheitlichen Bedürfnisse und Bedarfe von LSBTI* hin – etwa im Bereich der Altenpflege oder durch Sensibilisierung der Kommunalen Gesundheitskonferenzen. Wenn es um die Bewältigung individueller Probleme geht, finden Betroffene in den fünf vom Gesundheits- und Emanzipationsministerium geförderten Psychosozialen Beratungsstellen für LSBTI* und ihre Angehörigen äußerst qualifizierte Ansprechpartner_innen. Bei medizinischen Fragen können sie zudem eine verantwortungsvolle Lotsenfunktion übernehmen. Aus der schwulen Selbsthilfe heraus werden von Shalk – Suchtselbsthilfe für Lesben und Schwule in NRW Impulse in den Fachausschuss Suchtselbsthilfe NRW eingebracht. Darüber hinaus werden über das Schwule Netzwerk NRW aus Landesmitteln auch gesundheitspolitisch orientierte Projekte zum Beispiel von Shalk oder queerhandicap gefördert. Leider ist bundesweit und auch in NRW ein Anstieg der Infektionen mit sexuell übertragbaren Krankheiten (Sexually Transmitted Infections – STI) festzustellen. Da die Zahl der Syphilisinfektionen, die meldepflichtig sind, nachweisbar zunimmt, ist anzunehmen, dass die Zahl der STI generell zunimmt. Bei Syphilisinfektionen sehen wir in den vergangenen fünf  Jahren einen Anstieg bei Männern, die mit Männern Sex haben, der sich von 2014 auf 2015 sehr deutlich verstärkt hat. Die Landeskommission AIDS hat im November 2015 eine Empfehlung zur Verbesserung der Prävention von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten sowie zur Erleichterung des Zugangs zu STI-Untersuchungen bei entsprechenden Anlässen verabschiedet. Die Empfehlungen beziehen sich unter anderem auf die Intensivierung der Fortbildung für Ärztinnen und Ärzte zur Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit zum Thema Sexualität und STI wie auch zur Diagnostik und Behandlung von STI. Zudem wird die Erweiterung des Angebots an anonymer und möglichst kostenfreier Testung auf STI für besondere Zielgruppen in Zusammenarbeit von Land, Unteren Gesundheitsbehörden, Kostenträgern und freien Trägern angeregt. Schon derzeit erleichtern anonyme und kostenfreie Angebote der Unteren Gesundheitsbehörden und freien Wohlfahrtspflege den Zugang zu STI-Untersuchung und -Behandlung für besondere Zielgruppen. Das Land NRW setzt sich in der Bundespolitik für eine Rehabilitierung der Opfer nach § 175 StGB ein. Schwule waren auch durch die Pathologisierung und Psychiatrisierung Opfer medizinischer Gewalt. Welche Möglichkeiten hat das Land NRW und insbesondere das Gesundheitsministerium, dieses Kapitel der Verfolgung von Schwulen nach 1945 aufzuarbeiten? Die Landeszentrale für politische Bildung fördert ein Projekt zur Aufarbeitung der Diskriminierung von homosexuellen Lebenswegen in den Jahren 1945 bis 1969 durch Interviews mit Zeitzeug_innen. Dieses Projekt gibt den Diskriminierten und Verfolgten eine Stimme und leistet einen Beitrag, das Erlebte aufzuarbeiten. Als Gesundheitsministerin beschäftigt mich insbesondere die Gewalt, der Schwule im medizinischen Kontext ausgesetzt waren und heute noch sind. Erst 1992 wurde die Diagnose Homosexualität aus dem internationalen Diagnosekatalog der WHO gestrichen. Bis dahin – und leider auch darüber hinaus – wurden und werden neben einer Pathologisierung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Stigmatisierung auch Versuche unternommen, diese „Krankheit“ zu heilen. Unter dem Begriff der „Konversionstherapien“ finden sich menschenverachtende Maßnahmen, bei denen sowohl psychische als auch physische Gewalt ausgeübt wird, mit dem Ziel, dass homosexuelle „Patienten“ fortan ohne gleichgeschlechtliche Sexualkontakte leben. Nach wie vor werden auch in Deutschland solche „Therapien“ angeboten, auch für Kinder und Jugendliche. Ein Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion der Grünen, der für Konversionstherapien bei Minderjährigen ein Bußgeld vorsah, fand 2013 leider auf Bundesebene keine Mehrheit. Das Gesundheits- und Emanzipationsministerium steht in engem Kontakt mit allen relevanten Akteur_innen aus dem medizinisch-psychotherapeutischen Bereich in Nordrhein-Westfalen. Sie alle haben sich klar gegen solche Therapieansätze ausgesprochen. Gemeinsam treten wir dafür ein, dass jetzt und in Zukunft homosexuellen Menschen keine weiteren seelischen Verletzungen durch diese „Therapie“-methoden zugefügt werden. Aktuell wird besonders kontrovers der Substanzkonsum von Schwulen, beispielsweise von Crystal Meth, diskutiert. Angebote in der Drogenhilfe und Kliniken zur Suchtbehandlung sind oftmals nicht auf das Thema „Substanzkonsum und Sexualität“ eingestellt. Wie kann das Land NRW hier zielgruppenadäquate und lebensstilakzeptierende Angebote für schwule Männer mit Substanzkonsum unterstützen? Wenn Sexualität nicht ohne Substanzkonsum gelebt werden kann, ist dies eine von vielen möglichen Ausprägungen von Suchtverhalten. Ich gehe davon aus, dass diese Problematik grundsätzlich in den Einrichtungen der Drogenhilfe und den Suchtkliniken bekannt ist. Die Berücksichtigung der Lebensumstände und Suchthintergründe gehört zu den wesentlichen Bestandteilen von Suchtberatung und -therapie. Um Neuinfektionen mit HIV oder anderen STI weiter zu minimieren, müssen die bestehenden Ansätze der Informationsvermittlung, der Risikominimierung, Überlebenshilfe und Gesundheitsförderung weiterentwickelt werden. Denn der Gebrauch von Drogen mindert die Bereitschaft der Konsument_innen, sich vor HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen zu schützen. Kurz gesagt: die Risikobereitschaft nimmt zu. Präventionsangebote und -strategien müssen in die entsprechenden Lebenswelten und Szenen integriert werden. Auch hierbei werden wir weiterhin intensiv mit der Aidshilfe zusammenarbeiten und diesen Prozess durch zielgruppenspezifische Projekte fördern. Wichtig ist die Verbesserung der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit und des Erfahrungsaustauschs von Sucht- und Aidshilfen. Hierzu können bereichsübergreifende Fachveranstaltungen, wie etwa der für Ende April in Köln geplante Fachtag „Lust und Rausch“ zu den Gefahren des Substanzkonsums von Crystal Meth, GHB, GBL, Amphetaminen oder Ketamin, beitragen. Bei solchen Veranstaltungen können sich Drogenhilfen, Aidshilfen sowie schwule Selbsthilfestrukturen und Beratungsstellen zum Thema austauschen. Den Ergebnissen des Fachtages sehe ich mit Interesse entgegen. Und zum Abschluss: Was wünschen Sie sich vom Schwulen Netzwerk NRW als Selbsthilfeorganisation, um das Thema „schwule Gesundheit“ auch in der Zukunft mehr in den Mittelpunkt der Gesundheitspolitik zu stellen? Mir liegt sehr viel daran, dass die Betroffenen aus ihrer Eigenkompetenz heraus Bedarfe artikulieren und mit uns gemeinsam Lösungsstrategien entwickeln. Deshalb ist auch der Aktionsplan in einem breiten Beteiligungsprozess entstanden. Ich gehe davon aus, dass das Schwule Netzwerk NRW, wie dort angekündigt, eigene Impulse für die spezifischen gesundheitlichen Aspekte schwuler Männer erarbeiten wird. Vielen Dank, Frau Steffens. Foto: © MGEPA NRW / Franklin Berger]]>


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