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#Koerpervielfalt – Plakatkampagne zum Intersex Awareness Day klärt auf

#Koerpervielfalt – Plakatkampagne zum Intersex Awareness Day klärt auf

Drittes Geschlecht, Variante der Geschlechtsentwicklung, Personenstand „divers“ – immer häufiger ist in Nachrichten und politischen Debatten die Rede von Intergeschlechtlichkeit. Trotz dieser zunehmenden Aufmerksamkeit wissen viele nichts mit dem Begriff Inter* anzufangen und glauben, noch nie eine inter* Person getroffen zu haben. Dabei leben in NRW schätzungsweise etwa 304.000 intergeschlechtliche Menschen. Eine neue Kampagne der Landeskoordination Inter* NRW und der Landeskampagne Anders & Gleich anlässlich des Intersex Awareness Days (Deutsch: Tag der intergeschlechtlichen Sichtbarkeit) am 26. Oktober räumt nun mit Unwissen auf. Sie klärt über körperliche Vielfalt auf und macht auf Baustellen in der rechtlichen Gleichstellung intergeschlechtlicher Menschen aufmerksam.1

„Viele Menschen halten daran fest, dass Körper eindeutig männlich oder weiblich zu sein haben,“ so Lou Martin von der Landeskoordination Inter* NRW. „Daraus folgt die Annahme, dass alles, was von der Norm abweicht, krankhaft ist. Viele inter* Menschen wurden und werden darum bis auf wenige Ausnahmen medizinisch nicht notwendigen Operationen und Behandlungen unterzogen, um ihre Körper einer geschlechtlichen Norm anzupassen.“ Mediziner*innen und Eltern seien oft der Auffassung, diese Behandlungen seien nötig, um inter* Menschen ein „normales Leben“ zu ermöglichen. Der Effekt, so Martin, sei aber häufig das Gegenteil: „Viele dieser Behandlungen führen zu schmerzhaften Langzeitfolgen. Oder sie haben zur Folge, dass intergeschlechtliche Menschen die Beziehung zu ihrem eigenen Körper verlieren – weil sie gar nicht wissen, wie er sich ohne all diese fremdbestimmten Eingriffe entwickelt hätte.“ Da die Eingriffe häufig schon im Säuglings-, Kinder- und Jugendalter erfolgen, hätten die wenigsten inter* Menschen die Möglichkeit, ihnen selbstbestimmt und vollinformiert zuzustimmen.

Seit 2021 verbietet das Bürgerliche Gesetzbuch medizinisch nicht notwendige Eingriffe an Kindern, die eine „Variante der Geschlechtsentwicklung“ haben. Allerdings gibt es nach wie vor Maßnahmen, die vom Gesetz nicht ausreichend abgedeckt sind. Inter* Verbände gehen außerdem davon aus, dass Mediziner*innen und Erziehungsberechtigte versuchen, die gesetzlichen Vorgaben zu umgehen – in der Annahme, dass junge Menschen gesünder aufwachsen könnten, wenn ihr Körper „eindeutig“ männlich oder weiblich sei. Zudem werden Jugendliche und Erwachsene nicht durch dieses Gesetz geschützt. „Diese Eingriffe in die körperliche Selbstbestimmung müssen ein Ende haben,“ so Vera Uppenkamp, Fachvorständin für Inter* Themen im Queeren Netzwerk NRW. „Wir setzen uns  für die uneingeschränkte körperliche Selbstbestimmung aller Menschen ein. Dazu gehört: inter* Körper müssen als grundsätzlich gesund anerkannt werden. Inter* Menschen müssen die Möglichkeit haben, Behandlungen informiert und selbstbestimmt zuzustimmen – oder sie abzulehnen. Ausnahmen für Behandlungen zum Beispiel im Säuglingsalter kann es nur im Fall von lebensbedrohlichen und akut gesundheitsgefährdenden Situationen geben. Und inter* Menschen, deren Lebensqualität durch Genitalverstümmelung und ähnliche Eingriffe beeinträchtigt wurde, müssen angemessen entschädigt werden.“

Einige rechtliche Fortschritte für inter* Personen konnten in den vergangenen Jahren in Bezug auf das Personenstandsrecht verzeichnet werden: Das deutsche Recht sieht vor, dass in der Geburtsurkunde jedes Menschen ein Geschlecht festgehalten wird. Lange war es dabei nur möglich, zwischen „männlich“ und „weiblich“ zu wählen. Seit Ende 2013 haben Ärzt*innen die Möglichkeit, diesen Eintrag bei intergeschlechtlichen Kindern offen zu lassen. Menschen mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung haben außerdem die Möglichkeit, den Eintrag nachträglich streichen zu lassen. Seit 2018 gibt es außerdem mit dem Geschlechtseintrag „divers“ die Möglichkeit, ein Geschlecht, das weder männlich noch weiblich ist, als Personenstand zu benennen.

Diese Entwicklungen seien ein wichtiger Fortschritt auf dem Weg zu Selbstbestimmung und einem sensiblen gesellschaftlichen Umgang mit Intergeschlechtlichkeit, so Joris Richter von der Landeskampagne Anders&Gleich. Vollständige Gleichstellung aber sei damit noch nicht erreicht. „Staat und Gesellschaft müssen endlich anerkennen, dass alle Menschen am besten in der Lage sind, selbst Auskunft über ihre Geschlechtsidentität zu geben. Das heißt: eine Änderung des Personenstands muss allen Menschen, ob inter* oder dyadisch, ohne medizinische Bescheinigung offen stehen.“ Es dürfe außerdem nicht das Missverständnis entstehen, alle inter* Menschen würden den Personenstand divers oder einen offenen Personenstand führen. „Viele inter* Menschen sind Frauen oder Männer. Das heißt: Arbeitgeber*innen, Vereine, Krankenhäuser, Ärzt*innenpraxen und andere Einrichtungen müssen davon ausgehen, dass sie mit inter* Personen arbeiten – ob in ihren Unterlagen der Begriff „divers“ auftaucht oder nicht.“

Die Kampagne „Körpervielfalt NRW“ rund um den internationalen Intersex Awareness Day macht mit zwei Plakatmotiven darauf aufmerksam, wie viele inter* Menschen es in NRW gibt. Sie setzt dabei Informationsschwerpunkte vor allem in den Bereichen Personenstand/Selbstbezeichnungen und medizinische Eingriffe in die körperliche Selbstbestimmung. Inter* Communities und ihre Verbündeten nutzen den Aktionstag weltweit, um auf Intergeschlechtlichkeit und die gesellschaftspolitischen Anliegen intergeschlechtlicher Menschen aufmerksam zu machen. Damit setzt sie insbesondere wichtige Zeichen der Sichtbarkeit im ländlichen Raum. Jana Hansjürgen vom Landesprojekt blick* - LSBTIQ* im ländlichen Raum betont: "Oftmals sind für inter* Menschen und ihre Angehörigen keine spezifischen Anlaufstellen vorhanden oder sie müssen eine weite Anreise auf sich nehmen. Mit der Kampagne werden Impulse in die Gesamtgesellschaft gegeben und wichtige Informationen zu den Beratungsangeboten für intergeschlechtliche Menschen in Nordrhein-Westfalen aufgezeigt. So können sich inter* Menschen, Angehörige und Interessierte im ländlichen Raum im ersten Schritt digital informieren und über diverse Formate in den Austausch gehen."

Die Kampagne ist vom 18. Oktober bis teils zum 03. November auf 1423 Litfaß-Säulen und 146 Infoscreens an U-Bahn- und Straßenbahnhaltestellen in ganz NRW zu sehen. Zudem werden in diesem Zeitraum an 307 Locations City-Cards mit den Plakatmotiven zu finden sein. Ihren Höhepunkt hat die Aktion am 26. Oktober, dem internationalen Intersex Awareness Day. Teil der Aktion ist der Verweis auf den Link koerpervielfalt.nrw, unter dem Interessierte weitere Informationen rund um das Thema Intergeschlechtlichkeit und körperliche Vielfalt finden. Neu erschienen ist in Herausgeberschaft der Fachstelle Queere Jugend NRW etwa das Heft „Superheld*innen gesucht: Empowerment für Inter* Jugendliche. Eine Übersicht über Anlaufstellen und Beratungsangebote für intergeschlechtliche Jugendliche in NRW.“ Hier finden nicht nur inter* Jugendliche sondern auch ihre Bezugsmenschen und Fachkräfte Beratungsangebote und Kontaktmöglichkeiten zu Selbsthilfeorganisationen sowie Online-Tipps, Bücher, die Mut machen, und Hinweise zu Fachliteratur.

Die Kampagne Körpervielfalt NRW wird unterstützt durch die Heldisch GmbH und Stroer SE & Co. KGaA. Sie wird gefördert aus Mitteln des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes NRW. Die Landeskoordination Inter* NRW ist eine Fachstelle des Queeren Netzwerks NRW. Anders & Gleich ist eine Kampagne der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in NRW. Texte und Idee: Lou Martin, Joris Richter, Rebecca Knecht, Ika Elvau.

1 Inter* bezeichnet Menschen, deren Körper medizinisch als nicht als ausschließlich männlich oder weiblich gelten. Das kann sich zum Beispiel in den sekundären Geschlechtsmerkmalen (z.B. Haarverteilung, Brust und Statur) zeigen, in Fortpflanzungsorganen und Genitalien und/oder in Chromosomen und Hormonen.

2 Dyadisch beschreibt Menschen, deren Körper als medizinisch eindeutig männlich oder weiblich eingestuft wird. Die Bezeichnung sagt nichts darüber aus, ob die Geschlechtsidentität eines Menschen
mit dem in der Geburtsurkunde festgehaltenen Geschlecht übereinstimmt oder nicht (cis bzw. trans*).


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