Am 09. und 10. November 2013 veranstalten das Schwule Netzwerk NRW e.V. und die LAG Lesben in NRW e.V. einen Workshop für Lesben und Schwule aus den ländlichen Regionen Nordrhein-Westfalens. Die Landesverbände wollen wissen, wie es sich in der "Provinz" heute leben lässt. Mehr dazu gibt es hier in der Ausschreibung (PDF-Version).
Johannes J. Arens ist Publizist aus Aachen und hat hier seine eigenen Erfahrungen mit dem lieben Landleben auf den Punkt gebracht:
Gefühle zwischen Wiesen und Feldern
Dass ein Mädchen aus dem Nachbardorf meine Cousine morgens an der Bushaltestelle gefragt hatte, ob ich schwul sei, beschäftigte mich sicherlich ein halbes Jahr. Wer war dieses Kind? Woher nahm sie ihren Anfangsverdacht? Und was hatte meine Cousine geantwortet? Denn jeder kennt jeden auf dem Land, da gibt es keine schützende, urbane Anonymität. Wenn die Frage einmal im (ländlichen) Raum steht, kommst Du um eine Beantwortung meist nicht herum, sonst beantworten andere sie für Dich. Dabei ist man als junger Schwuler nicht unbedingt aus auf unangenehme Fragen, weil man die wichtigsten Antworten ja erst einmal für sich selbst auf die Reihe bekommen muss. Ein Coming-out auf dem Land verläuft anders als in der Stadt. Auf dem Dorf sind die Ausweichmöglichkeiten deutlich geringer, ein Schulwechsel aufgrund unerträglicher Mitschüler ist oftmals mit großen Entfernungen verbunden und es gibt wenig Alternativen zu den regulären sozialen Strukturen, die von Musikverein, Kirche und freiwilliger Feuerwehr bestimmt werden. Was nicht bedeuten soll, dass sich in mentaler Hinsicht nicht auch auf dem Land etwas geändert hat – auch im ländlichen Raum ist gesellschaftlicher Wandel möglich, auch auf dem Dorf gibt es schwule Schützenkönige – aber die Angst vor konkreter Diskriminierung ist eben groß, wenn man beim Überholen keine Ausweichmöglichkeiten hat.
Die frühmorgendliche Frage an der Bushaltestelle wurde Anfang der 1990er Jahre gestellt, da gab es noch kein Internet und Aachen, die nächste Stadt mit ihren 250.000 Einwohnern lag gute 45 Busminuten entfernt. Für mich war sie damit eine unerreichbare Metropole. Information über Homosexualität erreichte mein Dorf allenfalls, wenn Dagmar Berghoff in der Tagesschau eine Meldung über den Kießling-Skandal oder das Aufkommen von Aids verlas. Das hatte nichts mit dem zu tun, was morgens im Schulbus in mir vor ging, wenn wir durch Wiesen und Felder von einem Dorf ins nächste fuhren und ich versuchte, meine Gefühle für D., der drei Jahre älter als ich und in den letzten Reihe hinter mir saß, im Zaum zu halten.
Was blieb mir anders übrig, als zu denken, dass keiner so war, wie ich.
In ländlichen und damit dünner besiedelten Gebieten ist die Chance, zwischen Feldern und Wiesen auf andere Homosexuelle zu treffen, schon rein rechnerisch geringer als in Städten mit ihrer nahezu magnetischen Wirkung auf Menschen, die sich selbst als „anders“ empfinden. So fuhr ich jeden Morgen durch die schöne Landschaft und bekam lediglich einmal im Monat durch die Anzeigen des TopMan-Versands auf den letzten Seiten der ADAC-Motorwelt eine Vorstellung davon, dass es da drinnen, in der Stadt, mehr gab, als ich mir hier draußen vorstellen konnte.
Seitdem hat sich schwuler Alltag in Deutschland dramatisch verändert. Digitale Kommunikation bestimmt beträchtliche Teile des öffentlichen Lebens und damit auch die Umsetzung unseres ganz individuellen Lebensentwurfs. Vieles ist einfacher und selbstverständlicher geworden, auch wenn die Ausdünnung von schwulen Kneipen und Meiden deutlich macht, dass die urbane Community nicht mehr das ist, was sie vor zwanzig Jahren noch war.
Und auf dem Land? Auch dort, von wo aus ich damals mit dem Bus in die Stadt fuhr, um eine Kontaktanzeige aufzugeben, gibt es heute GayRomeo und Grindr. In wenigen Augenblicken kann ich sehen, ob es andere Schwule in meiner Region gibt, ob ich vielleicht sogar schon jemanden kenne und ob unsere Profile und Vorlieben kompatibel sind. Das Tal der rosaroten Ahnungslosigkeit ist Geschichte. Wer wissen will, der kann wissen! Wer sehen will, der kann sehen! Und dennoch frage ich mich, ob das Coming-out auf dem Land durch das Internet grundsätzlich leichter wurde. Die Kontaktaufnahme zu anderen schwulen Jungs ist – mit allen Vorzügen und Risiken – unbestritten einfacher geworden, aber die Hemmschwelle den Kumpels von der freiwilligen Feuerwehr beim nächsten Treffen zu erzählen, was Sache ist, ist – mit oder ohne Internet – die gleich geblieben.
Für mich ist alles lange her und alles hat irgendwie, irgendwann seinen Platz gefunden. Nach zehn Jahren in diversen Großstädten im In- und Ausland habe ich mich vor einigen Jahren wieder für die Megametropole mit ihren 250.000 Einwohnern entschieden. Manchmal nehme ich die 45 Minuten Busfahrt zurück ins Dorf auf mich – einfach nur, um mich zu erinnern, wie das früher war.
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